Über die Philosophie der Budo-Etikette

Der folgende Beitrag stammt von Dr. Jörg-M. Wolters vom Institut für Budopädagogik
 
Die Bedeutung der Etikette im traditionellen Karate-Do muss sehr hoch eingeschätzt werden, denn sie geht weit über das hinaus, was man im Westen unter „Regeln“ oder „Disziplin“ versteht. Die Etikette im Budo sind mehr als ein bloßes Regelwerk, eine Abläufe organisierende „Ordnung“: In den Etiketten drücken sich die Innere und Äußere Haltung des Budo und desjenigen, der Budo praktiziert, aus und offenbaren das rechte Verständnis des Weges und das Bemühen um Fortschritt. Das heißt, nicht dass, sondern wie ich die Etikette „bediene“ (besser: mich ihrer bediene), um meiner Haltung gegenüber dem Do, Ryu, Dojo, Sensei oder Mitschüler Ausdruck zu verleihen, ist dabei entscheidend. Im traditionellen Budo sagt man, das man an der Art, wie man sich verneigt, den wahren Meister erkennt, oder daran, wie die Schüler ihre Kleidung sortieren (z.B. ihre Schuhe ausrichten), erkennt, wie weit sie bereits im Budo gekommen sind...
 
Kampf-Kunst ohne Etikette ist zum Kampf-Sport verkommen, da sie wichtiger „geistiger“ (innerer) Schulungswege beraubt und auf moderne (äußere) Maßstäbe reduziert ist. Während im Sport die Etikette nebensächlich, ja weil unfunktional zur Erlangung des Erfolges sogar hinderlich sind – und z.B. aus der ursprünglichen Kontemplation/ Meditation im Seiza (am Anfang und Ende des Unterrichts) nur noch eine oberflächliche, allenfalls exotische Begrüßungs- zeremonie übrig geblieben ist – ist Budo ohne diese geistige Übung undenkbar.
 
Die Etikette sind zunächst vergleichbar mit einer eigentümlichen, fremden „Sprache“, dessen „Vokabular“ man zusätzlich zu den körperlichen Abläufen erlernen muss und dessen Sinn einem erst einmal verborgen bleibt. Eine Verneigung bei Betreten des Dojo ist anfangs einfach nur eine Regel, ein Muss – später verbindet man vielleicht mit diesem vermeintlich äußeren „Ritual“ auch ein inneres Gefühl, geprägt durch die vielen Erfahrungen, die man gerade in diesem Dojo hat machen können.
 
Aus der bloßen rituellen Verneigung vor dem Partner mag schließlich eine Geste echter Wertschätzung werden, emotional „gefüllt“ mit wirklicher Hoch-Achtung und Zu-Neigung. Aus dem „Oss“, bei verschiedenen Gelegenheiten im und rund ums Budo wird aus einer zunächst vordergründigen Floskel irgendwann ein Ausdruck tiefer persönlicher Empfindung, also Ausdruck eines ganz speziellen, echten momentanen Gefühls werden (was bei alteinge- sessenen Budoka sogar in Situationen jenseits des Budo im Alltag spontan geäußert natürlich zum Unverständnis des Gegenübers führt, aber bei dem Oss-Ausdrückenden das einzig passende Wort, die genau passende Vokabel für einen inneren Vorgang des Einverständnisses, der Zustimmung oder der Bestätigung ist. Mit einem anderen Wort hätte man auf einmal genau diese innere Verfassung treffender gar nicht ausdrücken können). Die Etikette vermitteln einem eine neue, für Verständige in hohem Masse präzise „Sprache“ der Vermittlung von Einstellungen, d.h. eben besagter „innerer Haltungen“.
 
Etikette müssen als Kata verstanden werden: Eine (scheinbar in erster Linie oder für den Anfänger nur) äußere Form, ein Bewegungs- oder Verhaltens-Gerüst, dessen Sinn, Bedeutung und wahre „Ästhetik“ oder „Meisterschaft“ sich erst durch persönliche „Belebung“ und „Füllung“ mit „inneren Inhalten“ (Interpretationen) offenbart. Jede Kata ist darauf angewiesen, „beseelt“ zu werden - ansonsten bleibt sie starr und „ausdrucks-“ wie „leblos“.
 
Am ehesten sollten die Etikette so verstanden werden, dass sie eine Methode, ein Medium des Ausdrucks dessen sind, was man im Budo erreicht hat oder zu erreichen sich bemüht, vom Budo weiß, glaubt oder hält. Die Etikette verkörpern die Ideologie des Weges insgesamt. Damit weisen sie über die Möglichkeit eigenen Wachstums – so zentral das Anliegen im Budo auch ist – durch (freiwillige) Anpassung und „Unterwerfung“ unter ein übergeordnetes Ideal hinaus.
 
Mein Verhalten bezeugt nicht nur meinen persönlichen Wegfortschritt (Auffassung, Ernst usw.) sondern steht Modell fürs Ganze. An ihm ist Budo überhaupt zu messen! Die Budo-Etikette dienen auch diesem höheren Ideal, in dem man Beispiel für das Gesamte ist. Jedes eigene Fehlverhalten (auch außerhalb des Budo) schadet dem Ansehen des Budo, jedes positive Verhalten dient dem Ganzen. Budo als Weg persönlichen Wachstums muss daran gemessen werden, inwieweit die Schüler bzw. Praktizierenden selbst den Anforderungen des Bemühens um Selbst-Beherrschung genügen.
 
Die Etikette sind daher nicht nur dazu da, bestimmte Abläufe im Training oder im Dojo vereinfachend zu regeln, sondern alle Praktizierenden in die „Pflicht“, d.h. in die Verantwortung zu nehmen, sich sowohl um eigene Selbstbeherr- schung (mit dem Ziel zunehmender innerer Reife) zu bemühen, als auch Beispiel sein zu müssen für die Inhalte, Ziele und den Geist des Budo, des Ryu und Dojo, aus dem man kommt.
 
Neben der rein formalen Organisation bestimmter Abläufe (z.B. zur Sauber- keit, Höflichkeit, Disziplin usw.), die auch zur störungsfreien und gefahrlosen Durchführung des Unterrichts hilfreich sind, sind also vor allem zwei wesentliche Ziele mit den Etiketten verbunden:
 
1. Persönliches Wachstum durch Überwindung des Egoismus (eigener Wichtigkeit) und „Unterwerfung“ des eigenen Selbst unter ein höheres Ideal (Übung der Wertschätzung, Demut)
 
2. Pflege des guten Rufes eines Kampfkunstsystems oder einer -schule durch vorbildliches Verhalten der Schüler (Ehrenkodex).
 
Also gelten die Etikette für Budoka nicht nur innerhalb des Dojo – sondern in gewissem Sinne auch „im normalen Leben“. Von einem Budoka erwartet man auch vor und nach dem Training sowie außerhalb ein den Budo-Idealen ange- messenes Verhalten. Dieses ist im privaten Alltag wohl kaum einzulösen, aber zumindest dann, wenn man als Budoka oder Schüler eines Dojo erkennbar ist (z.B. in der Gruppe, auf dem Parkplatz...), zwingend geboten.
 
Kein Verhalten ist egal. Alles Tun ist bewusst. Etwas, das im Buddhismus höchsten Rang besitzt. Jede Handlung dokumentiert meine Fähigkeit, mich entsprechend selbst gesteckter Ziele zu benehmen (Selbst-Disziplin), repräsentiert mein Wissen und Können des Weges, auf dem ich bin, für den ich stehe. Ich zolle mit meinem Verhalten, das extra so ist, wie es ist, Respekt, d.h. Anerkennung und Achtung – mir (nämlich meinem Weg und Bemühen) und anderen gegenüber. Durch Etikette, die nicht zwanghaft und damit leer (Sinn-los) ist, kann ich echte Wertschätzung ausdrücken – wenn ich will.
 
Die Einhaltung der Etikette im Budo ist eine Übung selbst. Wie gesagt, dient sie der Auseinandersetzung mit sich selbst, in dem ich mich erstens um Einhaltung und zweitens um das Verständnis des Sinns bemühe. Anfangs reine äußere Form, unverstandene Floskel, gebotene Regel. Erst mit zunehmender Praxis und der eigenen Erfahrung, dass mit diesen symbolischen Gesten echte innere Gefühle, Einstellungen und Haltungen verbunden sind, gewinnt die Etikette an Bedeutung. Sie wird zu einer eigenen, typischen und unverwechselbaren Ausdrucksmöglichkeit des ansonsten Schwer- oder gar Nichtsagbaren.
 
Kurz: Wir müssen im Budo zunächst die Etikette lernen, um uns später ihrer immer mehr in eigener Verantwortung und mit eigenem Geist bedienen zu können, um bestimmte Gefühle und innere Haltungen auszudrücken. Was anfangs fremd und zwanghaft war, wird eines Tages intim und frei. Man wird dankbar sein, diese Sprache „sprechen“ zu können – und zu verstehen...

Der Sinn der Etikette ist die >Innere Übung<, genauer Disziplin-Übung, um die Haltung zu entwickeln und über Sammlung, stille Konzentration und Bewusstheit jene „Offenheit“ (gegenüber dem Weg und Zulernenden) auszubilden, die zum Verständnis des Wesens des Budo notwendig ist.
 
 
Im Zentrum der Etikette steht Respekt:
 
Respekt meint nicht Autoritäts-Angst oder blinde Unterwerfung, nicht das gezwungene Befolgen von Regeln, sondern eine innere (und äußerliche, d.h. äußerlich ausgestrahlte) Haltung der Würde und Würdigung:
 
Würde bedeutet die Empfindung und den Ausdruck einer gewissen Feierlichkeit, „E(h)rhabenheit“, Ernst, Anstand, Selbstachtung und Stolz – und Würdigung bedeutet die Empfindung und den Ausdruck von Anerkennung, Achtung und das Ehren von etwas existierendem Bedeutsamen, einer Idee oder eines Ideals. In diesem Sinne ist Respekt zu verstehen.
 
Diese Art des Respekts, der in der Etikette gelebt werden soll, liegt allem Tun (Üben) zugrunde. Es geht um den Respekt,
- sich selbst,
- dem anderen
- und dem Weg gegenüber.
 
Alle einzelnen zeremoniellen Regeln und Verhaltensweisen, die in den jeweiligen Budo-Etiketten eines Dojo gelten bzw. praktiziert werden, sind diesem Prinzip des Respekts (Würde und Würdigung) abgeleitet. Beachtet man die Leitidee, sich selbst, dem anderen und dem Weg gegenüber aufrichtig Respekt zu zollen, und macht dies zum Maßstab seines tatsächlichen Verhaltens, wären konkrete Regelungen überflüssig!
 
Wenn man begreift, dass eben ein Dojo nicht etwa nur ein Sportraum oder ein Übungsraum ist, sondern im traditionellen Sinne der „Ort der Erleuchtung“ ist, ein „heiliger“ Ort des Weges, das Zentrum der Weg-Gemeinschaft – und dieses respektiert, achtet und würdigt, sind die Etikette im Wesen erfüllt. Alle einzelnen Regeln, wie genau man sich wann im Dojo nun verhält, dienen allein der Übung, diesen Respekt zuerst auszudrücken, ihn zu entwickeln, um ihn dann wirklich zu empfinden.
 
Im Budo ist viel von Demut die Rede, und es geht dabei nicht etwa um Oben und Unten, um Autorität und Hierarchie, Macht und Unterwürfigkeit, sondern die innere Haltung jener Würde und Würdigung, die Grundlage allen Wachstums und aller Persönlichkeitsentwicklung in den Höheren Kampfkünsten (Budo) ist.
 
Demut meint eine gewisse Bescheidenheit, meint Ergebenheit und Hingabe. Durch die Übung der Demut soll Selbstlosigkeit entwickelt und „Edelmut“ kultiviert werden, die die Ritterlichkeit des >Friedvollen Kriegers< definiert. Ohne die Bescheidenheit, den ständigen Anfängergeist des Budoka, ist kein Fortschritt mehr möglich. Der WEG ist das Ziel! Es gibt kein Ende des Weges, keine Meisterschaft, keinen Stillstand, kein Ausruhen, kein Zurück.   Bemühe ich mich also um eine innere und äußere Haltung des Respekts (Würde, Würdigung und Demut) mir selbst, dem anderen und dem Weg gegenüber, praktiziere ich bereits Budo als wahre Kampfkunst. Die Disziplin, also die Selbst-Beherrschung, die dies von einem oft erfordert, (weil man häufig unaufmerksam, oberflächlich oder launisch ist) entwickelt sich aus dem >Kampf mit mir selbst<, der im Budo immer wieder als zentrales Anliegen thematisiert wird.   Habe ich Respekt vor mir selber, dann mag und achte und pflege ich mich. Dann erscheine ich (schon mir zuliebe) gepflegt und sauber zum Budo-Unterricht und ordne meine Kleider (Gi), ohne ermahnt werden zu müssen, laut Etikette mit gewaschenen Füßen, geschnittenen Fußnägeln, sauberem Gi usw. kommen zu müssen.   Habe ich Respekt vor dem anderen, bezeuge ich gern meine Wertschätzung und verneige mich von selbst vor ihm, ohne durch die Etikette ständig dazu aufgefordert zu werden.   Zeuge ich Respekt dem Weg gegenüber – also neben dem Budo allgemein auch dem konkreten Stil, dem Dojo als Ort des Weges, den Lehrern als repräsentative >Weg-Weiser< (sensei jap.: „Vorher-Erlebter“ und „Lehrer-Vater“) und den (auf dem Weg) Fortgeschrittenen gegenüber, anerkenne ich – in Demut – das System und die mir überlegene Leistung und Erfahrung ganz selbstverständlich und brauche nicht per Etiketteregeln dazu gezwungen zu werden.
 
 
Achtung und Bewusstheit – Grundlage, Methode und Ziel der Etikette im Budo (Zen im Budo):
 
Zanshin, höchste Geistesgegenwart, Aufmerksamkeit, Präsenz, Konzentration und Wachheit sind zentrale Inhalte der Kampfkunst. Sie durch Übung zu fordern und zu fördern, weiterzuentwickeln und in der Praxis soweit zu vertiefen, dass sie mir (bestenfalls) immer zur Verfügung stehen, ist Budo.
 
Typisch: Schulungsweg (Übung) und Ziel (Ideal) sind eins. Übe ich mich in einer Haltung, entwickele ich sie auch. In diesem Sinne ist Etikette ein Vehikel der Selbst-Erziehung – kein sinnloser, dogmatisch-autoritärer Zwang disziplinierender Rangordnungsfragen, kein Gefängnis der Persönlichkeit, sondern geradezu eine systematische Aufforderung zur Selbstentwicklung. Die zunächst rituelle (also anfangs vielleicht nur äußere) Zurücknahme des Ego und Ausrichtung nach Idealen wird zur geistigen (inneren), ja erzieherisch-therapeutischen) Übung wahrer Größe.
 
Ich >ver-beuge< mich nicht, mach mich klein und krumm, sondern >ver-neige< mich in aller Aufgerichtetheit, ich >unterwerfe< mich nicht als Kleingeist, sondern neige mich zu und öffne mein Herz in stolzem Großmut.
 
Nicht bediente Etikette sind - wenn nicht Zeichen von Unwissenheit oder sträflicher Oberflächlichkeit (das Gegenteil von Budo) – umgekehrt der Ausdruck von Arroganz, anmaßender Überheblichkeit und kleingeistigem Geltungsbedürfnis sowie Geringschätzung des Gegenübers, des Weges – und letztlich meiner selbst. Selbst-Erhöhung, die auf Nichtwürdigung oder gar auf Erniedrigung anderer angewiesen ist, erhöht nicht, sondern zeigt, wie weit unten man wirklich ist, wie klein, ja sie erniedrigt einen geradezu selbst. Respektloses Verhalten ist egozentrisch, selbstsüchtig. Budo ist aber gerade der Dienst am anderen, ist Selbsterziehung auch zum Wohle der Gemeinschaft, des Friedens der Welt. Budo zerstört die kleingeistige Ich-Verhaftetheit und setzt mich in Beziehung zur Welt.
 
Die Fähigkeit der Empfindung und zum Ausdruck von Respekt ist also ein wesentlicher Aspekt des Weges – die Etikette eine zentrale Übung!
 
Als Lehrer für Karate – oder besser Karate-Do – sind wir mehr als bloße „Trainer“ für bestimmte bewegungstechnische Prinzipien. Wir sind Vorbilder mit einer immensen Verantwortung für die Vermittlung all dessen, was dem Wesen nach Karate-Do als persönlichkeitsfördernden und „charakterschulenden“ Übungs-Weg ausmacht. An unserem Verhalten und unserer Etikette als Lehrer und Fortgeschrittene wird der Wert des Karate als Do gemessen, transportiert – oder eben auch nicht...
 
Dr. Jörg-M. Wolters, Institut für Budopädagogik