Von einem gewissen Herrn Funakoshi haben die meisten von euch bestimmt schon einmal gehört. Er sei der Vater des modernen Karate-Do und habe viel für die Entwicklung dieser Kampfkunst getan. Bei vielen ist damit das Wissen über Sensei Funakoshi allerdings erschöpft. Deshalb möchten wir an dieser Stelle das Leben dieses außergewöhnlichen Mannesetwas näher beleuchten.
Funakoshi Gichin wurde 1868 im Bezirk Yamakawa-co von Shuri, der Hauptstadt Okinawas, geboren. Sein Vater, Funakoshi Gisu, war ein niederer Beamter und außerdem Experte im Stockkampf. Der kleine Gichin war ein kränkelndes und schwaches Kind, weshalb er von seiner Familie recht verwöhnt wurde. Bereits in seiner frühen Jugend machte ihn sein Großvater mit der klassischen chinesischen Literatur vertraut. In der Grundschule freundete er sich mit dem Sohn von Azato Yasutsune, eines der größten Kampfkunstexperten Okinawas, an. Dies war ein entscheidender Moment in seinem Leben, denn er beschloss, bei Azato Karate zu lernen. Das war aber zu dieser Zeit noch verboten, so dass nur nachts und im Verborgenen trainiert werden konnte. Deswegen musste Funakoshi jedes Mal einen ausgedehnten Nachtspaziergang machen, um zu Meister Azatos Haus zu kommen. Das nahm er jedoch gern auf sich, da er Gefallen an der Kampfkunst fand. Nach einigen Jahren besserte sich durch das Training außerdem sein Gesundheitszustand. Durch diesen Erfolg dem Karate zu Dank verpflichtet, erwog Funakoshi das erste Mal, Karate-Do zu seinem Lebensweg zu machen.
Noch dachte er nicht daran, es zu seinem Beruf zu machen. Durch seine Kenntnis der chinesischen Klassiker geprägt, entschloss er sich, Lehrer zu werden. Im Alter von 21 Jahren sammelte er erste Erfahrungen als assistierender Grundschullehrer. Durch die Ausübung dieses Berufes und die damit verbundene Pflicht, das Haar kurz zu tragen, kam es zum Bruch mit seinem sehr konservativen Elternhaus. In dieser Zeit heiratete Funakoshi Gichin. Neben dem täglichen Unterricht in der Schule besuchte er natürlich weiterhin die nächtlichen Karatelektionen bei Meister Azato, von denen er meist erst im Morgengrauen zurückkehrte. Nacht für Nacht übte er im Hof des Hauses Azato Kata, und zwar Tag für Tag, Woche für Woche, manchmal Monat für Monat die selbe, bis Meister Azato zufrieden war. Oft erreichte der junge Funakoshi dabei die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit und ging erschöpft zu Boden. Es war ihm nicht gestattet, mit einer anderen Kata zu beginnen, bevor Meister Azato es anordnete. Neben dem körperlichen Training lehrte dieser ihn in philosophischen Diskussionen die Essenz des Karate-Do. Bei Meister Azato lernte Funakoshi seinen zweiten bedeutenden Lehrer, Meister Itosu Yasutsune, kennen. Außerdem trainierte er bei einer Reihe von Karate-Experten wie Kiyuna, To’onno, Niigagi und Matsumura.
Bald nachdem Funakoshi Gichin als Assistent in der Schule angestellt wurde, absolvierte er die Prüfung zum Ausbilder der unteren Klassen. Das brachte eine Versetzung nach Naha, dem Sitz der Präfektorialregierung, mit sich. Später qualifizierte er sich noch zum Lehrer für die höheren Klassen. Eine noch höhere Beförderung schlug er jedoch aus. Dies hätte eine nochmalige Versetzung bedeutet, wodurch er von seinen Karate-Lehrern getrennt worden wäre. Das war für ihn nicht akzeptabel. 1901 besuchte der Schulkommissar der Provinz Kagoshima die Schule, an der Funakoshi Gichin angestellt war. Von einer Karate-Vorführung Funakoshis anlässlich dieses Besuches war der Kommissar so beeindruckt, dass er dem Kultusministerium einen Bericht vorlegte, in welchem er die Kunst des Karate lobte. Die Folge davon war, dass Karate in den Lehrplan aufgenommen wurde. Von nun an durfte Karate offiziell geübt werden und Funakoshi nahm seine ersten Schüler an. Im Jahre 1912 ankerten Schiffe der kaiserlichen Marine bei Okinawa, und die Matrosen wurden aufgefordert, die Kunst des Karate zu erlernen.
Funakoshi Gichin Dadurch wurde man in Japan auf Karate aufmerksam. 1919 gab Sensei Funakoshi seinen Beruf als Lehrer auf, da er durch eine erfolgte Beförderung auf einen entlegenen Archipel versetzt worden wäre. Seine Verbindung zu den Schulen verlor er allerdings nicht, sondern er gründete eine Gesellschaft zur Unterstützung von Studenten. Gleichzeitig rief er mit Hilfe seiner Kampfkunst-Kollegen die Vereinigung Okinawas zur Förderung des wahren Geistes der Kampfkünste ins Leben, um so für die Einheit des Karate-Do zu wirken. 1921 besuchte Kaiser Hiroito Okinawa und wohnte einer Vorstellung Meister Funakoshis bei. Dieser wurde daraufhin gebeten, eine Vorstellung in Tokio zu geben. Funakoshi fertigte verschiedene Fotos und Schriftrollen über das Karate-Do an und machte sich auf den Weg. Die Vorstellung wurde ein großer Erfolg, und Sensei Funakoshi wurde von Jigoro Kano (dem Begründer des Judo) gebeten, einen Vortrag zu halten und einige Kata vorzuführen. Daraufhin baten ihn verschiedene Leute, in Tokio zu bleiben und Karate zu unterrichten. Funakoshi schrieb an seine beiden Meister Azato und Itosu und befragte sie zu ihrer Meinung zu diesem Thema. Diese ermutigten ihn, zur Verbreitung des Karate-Do beizutragen und wünschten ihm viel Erfolg. Er entschied sich nun, in Tokio zu bleiben, und seine Söhne folgten bald seinem Beispiel. Seine Frau blieb jedoch als gläubige Buddhistin auf Okinawa und pflegte die Gräber ihrer Ahnen.
Sensei Funakoshi mietete in Tokio Räume für ein Dojo und begann, Karate zu unterrichten. Das ging jedoch nicht ohne Schwierigkeiten, da er kein Geld besaß. Deshalb musste er anfangs die unterschiedlichsten Arbeiten, wie zum Beispiel Hausmeister, Gärtner, Wächter oder Reinigungskraft annehmen. Im Laufe der Zeit wurden es aber immer mehr Schüler, so dass sich sogar einige Universitäten für Karate zu interessieren begannen. Schon bald wurden die ersten Karategruppen an den Unis gegründet. Die erste entstand an der Keio-Universität, gefolgt von der Takushoku. Unter seinen Schülern waren damals auch einige sehr bekannte Sumoringer, so beispielsweise der damalige Champion Kukunayagi. Am 1. September 1923 brachte ein Erdbeben von riesigem Ausmaß eine Welle der Zerstörung über Tokio, und viele Schüler Funakoshis wurden unter den Trümmern begraben oder starben im Feuer. Glücklicherweise blieb das Dojo heil, so dass ein geordnetes Training möglich war. Doch auf Grund der nur noch geringen Schülerzahl musste der Meister wieder andere Arbeiten annehmen.
1935 war es dann endlich soweit: Durch spenden und eigene Mittel konnte das erste jemals in Japan gebaute Karate-Dojo eröffnet werden. Das “Nationale Komitee der Karatefreunde” hatte sich dafür zu dem Namen – „Shoto-kan“ entschlossen. Damit wählten sie das Pseudonym, welches der Sensei zum Signieren seiner chinesischen Gedichte verwendet hatte (Shoto = Pinienrauschen, Kan = Haus). Fast siebzigjährig, begann Meister Funakoshi, Prüfungsrichtlinien und Trainingspläne aufzustellen. Bald jedoch wurde der Zuspruch zum Karate-Do so groß, dass er nicht mehr die gesamte Arbeit selbst verrichten konnte. Er machte seinen dritten Sohn zum Dojoleiter und überwachte selbst nur noch die Universitätslehrgänge. Die Absolventen seiner Trainingsgruppe nahmen dann das Karate mit ins ganze Land hinaus, so dass überall neue Karatedojos entstanden, welche Meister Funakoshi dann zu Lehrgängen und Trainingslagern besuchte.
Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges spitzte sich die Lage im Shotokan-Dojo wieder zu. Hunderte junge Männer kamen und wollten Karate lernen, so dass schon bald im Hof und auf der Straße geübt werden musste. Der Krieg hingegen raffte wieder eine große Anzahl Schüler hinweg. Auch Funakoshis Sohn Gigo erkrankte während dieser Zeit. Der Meister zog nun vorübergehend zu seinem ältesten Sohn. Während der amerikanischen Luftangriffe auf Tokio wurde auch das Shotokan-Dojo völlig zerstört. Als Japan kapitulierte kam es in der Hauptstadt zu starken Unruhen, und Sensei Funakoshi flüchtete zu seiner Frau, die sich bereits zu Beginn des Krieges nach Oita auf Kyushu zurückgezogen hatte. Im Spätherbst 1947 erkrankte seine Frau und starb, woraufhin er wieder zu seinem ältesten Sohn nach Tokio zog. Dort unterrichtet er dann noch einige amerikanische Militärs in der Kunst des Karate. Nach Abschluss des Friedensvertrages zwischen Japan und den USA reiste Sensei Funakoshi mit Isao Obata (Keio-Universität), Toshio Kamata (Waseda-Uni) und Masatoshi Nakayama (Takushoku-Uni) zu verschiedenen festlansbasen der Amerikaner, um Vorführungen zu geben. Damit begann der weltweite Durchbruch des Karate-Do.
Gichin Funakoshi starb am 26.April 1957 im Alter von 88 Jahren in Tokio. Meister Funakoshi lehrte immer, dass Karate eine defensive Kunst ist, die nie zum Angriff benutzt werden sollte. Für ihn waren die wichtigsten Werte des Karate-Do Vernunft und Bescheidenheit.
1922 schrieb Sensei Funakoshi sein erstes Buch mit dem Titel “Ryukyu-Kempo-Karate”. Die Druckplatten zu diesem Buch gingen allerdings im Erdbeben von 1923 verloren. Sein zweites Buch erschien 1935, welches “Karate-Do Kyohan” heißt und sich hauptsächlich mit den verschiedenen Arten von Katas befasst. Später sind noch weitere Artikel und Bücher von Sensei Funakoshi erschienen, darunter “Karate-Do – Mein Weg” als sein Lebenswerk, welches er erst kurz vor seinem Tode vervollständigte.
Auf die Insel in den südlichen Meeren
gelangte eine ausgezeichnete Kunst.
Sie heist Karate.
Zu meinem großen Bedauern verfiel die Kunst,
und ihre Weitergabe ist zweifelhaft.
Wer wird die große Aufgabe übernehmen,
damit sie wieder aufgebaut wird und überlebt?
Diese Aufgabe will ich übernehmen.
Wer wird es tun, wenn ich es nicht tue?<
Ich blicke in den blauen Himmel…
Funakoshi Gichin