"Diesen Menschen war der Gebrauch von Feuerwaffen anscheinend so gut wie unbekannt."
Diese Bemerkung stammte aus einem Bericht von John Rogers, des Kapitäns der amerikanischen Korvette "Vincennes", an den US-Marineminister nach seinen ersten Kontakten mit der Bevölkerung der Insel Tanegeshima. Er hatte Anfang 1855 die Aufgabe erhalten, topographische Vermessungsarbeiten in den Küstengewässern am Südzipfel Japans durchzuführen. Dies wurde möglich, nachdem ein Jahr zuvor der Vertrag von Kanagawa, der die Öffnung Japans beinhaltete, unterzeichnet werden musste. Der Abschluss erfolgte zwar widerstrebend, aber die Kanonen der Kriegsflotte Admiral Perrys leisteten unmissverständliche Überzeugungsarbeit.
Entsprach die Auffassung des amerikanischen Kapitäns der Wirklichkeit? Über Japan war nur wenig bekannt und die Schulung des Offizierskorps zu ihren Einsatzgebieten spielte sowieso kaum eine Rolle. In der englischen "Britannica" konnte man lesen, dass im Japan des Jahres 1855 die Schwerter den berühmten spanischen Klingen weit überlegen waren, aber über Gewehre war praktisch nichts zu erfahren. Die ganze Geschichte der Feuerwaffen ist im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen und selbst heute noch nicht vollständig wiederentdeckt. Aber eine Tatsache ist, dass die Japaner knapp ein Jahrhundert lang hervorragend Herstellung und Handhabung von Gewehren und Kanonen beherrschten, aber schließlich wieder – ganz im Gegensatz zu Europa – auf ihre „ klassischen“ Waffen zurückgriffen. Warum diese einmalig Entwicklung erfolgte, von der Blankwaffe zur Feuerwaffe und dann wieder zurück zur Blankwaffe, darüber sind sich die Gelehrten nicht einig.
Der Anfang dieser Entwicklung geht auf das Jahr 1543 zurück, als ein chinesisches Piratenschiff in den selben kleine Hafen einlief, den dreihundert Jahre später auch die „Vincennes“ ansteuern sollte. An Bord befanden sich drei portugiesische Abenteurer, welche Arkebusen(1) und Munition dabei hatten. Als Tokitaka, der Herr von Tanegashima, beobachtete, wie einer der Portugiesen damit eine Ente erlegte, nahm er bei ihnen Schießunterricht und erwarb schließlich für eine gewaltige Summe diese Waffen. Noch am selben Tag beauftragte er seinen obersten Schwertschmied mit der Herstellung von Kopien. Nach einem Jahr waren die ersten zehn Büchsen fertiggestellt und innerhalb von zehn Jahren produzierten überall in Japan Büchsenschmiede diese neue Waffe in großen Mengen. (Es existiert noch eine schriftliche Bestellung von Oda Nobunaga über 500 Musketen.) 1560 begann der Einsatz von Feuerwaffen in großen Schlachten, als Tokugawa Ieyasu die Festung Marune stürmen ließ und dabei „guten Gebrauch von konzentriertem Luntengewehrfeuer machte“. Der kommandierende General der Feste wurde dabei durch eine Kugel getötet, die seine Rüstung durchschlagen hatte. Weitere 15 Jahre später waren Feuerwaffen schlachtentscheidend.
Für den rasanten Einzug dieser neuen Waffe in das Militärwesen Japans gibt es mehrere Gründe. Einmal war Japan ein kriegerisches Land und die Erringung militärischen Ruhmes war das Hauptziel jedes "wohlerzogenen" Daimyo. Weiterhin befand man sich mitten in einem jahrhundertlangen Bürgerkrieg um die Herrschaft über das Land. Von besonderer Bedeutung war der hohe Stand von Handwerk und Technik. Japan stellte Erzeugnisse aus Kupfer und Stahl besser und billiger her, als alles, was in dieser Hinsicht in Europa erzeugt wurde. So konnten beispielsweise die Holländer, trotz der enormen Transportkosten, in Amsterdam Kupfer aus Japan billiger verkaufen als schwedisches. Und der größte Exportschlager waren Waffen. Zweihundert Jahre hindurch war Japan der weltweit führende Waffenexporteur gewesen, hauptsächlich natürlich im Fernen Osten. Und schließlich, trotz des Bürgerkrieges befand sich Japan in einer glänzenden Verfassung. Während des 16. Jahrhunderts hatte es eine größere Bevölkerung als jedes europäische Land und Landwirtschaft, Handel sowie Bauwesen standen in hoher Blüte, ebenso wie Bildung und Kunst(2).
Die Durchsetzung der Feuerwaffen erfolgte auch in Japan nicht problemlos. Die anfangs erwähnte Bestellung von Oda Nobunaga stellte nur einen kleinen Teil der Bewaffnung seiner Truppen dar, denn er gab den Lanzen in der Schlacht noch den Vorrang. Die Zurückhaltung entsprach zum einen der Neuartigkeit der Feuerwaffen, zum anderen jedoch der primitiven Form der portugiesischen Hakenbüchse oder des japanischen Teppo. Die Waffe wog zu Beginn 20 bis 30 kg, der Ladevorgang war recht aufwendig (Vorderlader) und forderte viel Übung, und die Reichweite der frühen Modelle von 70 bis 90 Meter lag weit unter der von Pfeilen. Außerdem: Ein ordentlicher Regenguss und die Arkebuse war unbrauchbar. Dazu kamen für die Japaner noch soziale Probleme. Seit langem war es üblich, vor dem eigentlichen Gemetzel rituelle Komplimente auszutauschen und Zweikämpfe vor der Front auszutragen. Aber für alle diese Schwierigkeiten gab es Lösungen, und die japanischen Kriegsherren fanden sie auch, viel früher als europäische Generäle. Die Kaliber(3) der Waffen wurden, bei gleichzeitiger Verringerung des Gesamtgewichtes, vergrößert, womit die Reichweite und Durchschlagskraft erhöht werden konnte. Der plumpe portugiesische Feuermechanismus(4) wurde verbessert. Man stellte wasserdichte lackierte Kisten zum Transport der Waffen her und erfand einen (einmaligen) Büchsenaufsatz, der es ermöglichte, Luntengewehre auch bei Regen abzufeuern. Auch die Taktik wurde verändert: Die Einleitungszeremonie wurde weggelassen, man feuerte, sobald der Gegner in Reichweite war, und durch unregelmäßiges, selbstständiges Feuernn des Schützen erreichte man einen pausenlosen Kugelhagel(5). Bei Salven schossen abwechselnd mehrere Reihen, so dass ein Glied feuerte, während die anderen die Waffen nachluden, was zu andauerndem Salvenfeuer führte.
Diese Entwicklung führte dazu, dass 26 Jahre nachdem die Hakenbüchse zum erstenmal im Land auftauchte, Takeda Shingen, der eine der drei bedeutendsten Armeen Japans führte, den allgemeinen Befehl herausgeben konnte, dass „... von nun an Gewehre die wichtigsten Waffen sind und die tüchtigsten Männer mit Gewehren ausgerüstet werden“. Eine Ironie des Schicksals war sein Tod 1573 durch eine Musketenkugel.
Den Beweis der Richtigkeit von Takedas Annahme gegenüber Feuerwaffen erbrachte die Schlacht von Nagashino 1575, in der Takeda Katsuyori (sein Nachfolger) und Oda Nobunaga aufeinandertrafen. Fürst Oda trat mit 38.000 Mann, von denen 10.000 mit Arkebusen bewaffnet waren, gegen Katsuyori, einem Verfechter der klassischen Kampfweise, an und verleitete den tapferen aber etwas einfältigen Heerführer zu einem Frontalangriff auf Nobunagas Heer. Der legendäre Reiterangriff der Takeda, welcher den Sieg in vielen Schlachten gebracht hatte, zerbrach hier unter dem mörderischen Kugelhagel von 3.000 Kriegern des Teppo-shu, dem Arkebusen-Korps Fürst Odas.
Die nächsten fünfzig Jahre waren die Glanzzeit der Feuerwaffen. Zu dieser Periode wurden in Japan mehr und bessere Feuerwaffen hergestellt, als in ganz Europa. Ihr Gebrauch machte den Krieger aus. Aber gleichzeitig begann auch der Widerstand dagegen zu wachsen. Es bildeten sich zwei entgegengesetzte Auffassungen heraus. Einerseits wurde die Überlegenheit der Arkebuse als höchst effizientes Fernkampfmittel anerkannt und große Mengen angeschafft. Im späten 16. Jahrhundert waren Gewehre in Japan gebräuchlicher als in jedem anderen Land der Welt. Andererseits aber wollte kein echter Krieger diese Waffe benutzen(6), denn Ehre war damit nicht zu erringen, da der Erfolg anonym blieb. Der Versuch der Trennung der Kriegsführung in einen aristokratischen Kampfstil mit Schwertern und einen plebejischen mit Gewehren musste zwangsläufig scheitern, da beide immer aufeinandertrafen. Der Tod von Mori Nagayoshi 1584 war dafür charakteristisch. Der Held – in voller Rüstung mit einem übergezogenen weißen Seidenhemd – wollte seinen Truppen voranreiten. Er bildete ein weit sichtbares Ziel und wurde, noch bevor er zum Angriff kam, von einem Arkebusenschützen vom Pferd geholt. Im selben Jahr trafen bei Komaki zwei Heere aufeinander, deren Generäle die Lektion von Nagashino gelernt hatten und beide einen hohen Anteil an Büchsenschützen in ihren Armeen hatten. Im Ergebnis verschanzten sich beide Heere gegenüber und hofften auf einen törichten Reiterangriff der Gegenseite, ohne sich selbst dem feindlichen Arkebusenfeuer aussetzen zu wollen. Dies nennt man eine klassische Pattsituation, und im Endergebnis verbündete man sich gegen einen anderen Gegner.
Jedenfalls stand der Zweckmäßigkeit der Feuerwaffen im Gefecht die traditionelle Haltung der Kriegerkaste zum Schwert gegenüber. Ein formelles Verbot gab es niemals in Japan. Aber eine langsame Folge von Beschränkungen und die Auffassung von der sowieso unehrenhaften Art dieser Kampfweise führten nach und nach zum Verzicht auf diese Waffen. Nach dem Sieg Tokugawa Ieyasus und seiner Ernennung zum Shogun begann dieser, die Gefahr von Aufständen und Angriffen auf seine Herrschaft mit der Wurzel auszurotten. Dazu gehörten die Entwaffnung aller Klassen außer den Samurai, der Verbannung ehemaliger Gegner ans "Ende der Welt" ebenso wie die Kontrolle über Herstellung und Verbreitung von Feuerwaffen. Es erschien die Verordnung, dass diese Waffen sowie Schießpulver nur noch in Nagahama hergestellt werden und ein besonderer Beauftragter die Genehmigung zur Herstellung erteilen durfte. In der Praxis wurden kaum Aufträge freigegeben, außer in geringen Mengen für die Zentralregierung. In der Folge mussten die Büchsenschmiede umsiedeln oder ihr Gewerbe aufgeben. Selbst die, welche nach Nagahama kamen, mussten wegen der geringen Aufträge am Hungertuch nagen. Auch als schließlich ihr Nichtstun ein wenig vergolten wurde, führte die Einstellung zur Arbeit dazu, dass der Großteil der Büchsenschmiede sein Tätigkeitsfeld auf das klassische Schwertschmieden verlagerte. Durch geschickte Förderung dieser Schwertherstellung gelang es 1625, das Regierungsmonopol endgültig zu erreichen. Als 1637 der Shimabara-Aufstand(7) ausbrach, war es für die nächsten 200 Jahre das letzte Mal, dass Feuerwaffen in einer Schlacht eine Rolle spielten.
Die Samurai übten sich von nun an wieder im Schwertkampf, die Mönche fertigten erneut ihre schwarz gefiederten Pfeile, und im ganzen Land wurden von kunstfertigen Schmieden Schwerter, Lanzen und Rüstungen in großen Mengen gefertigt. Die Feuerwaffen hatten keine Bedeutung mehr. Das Desinteresse an diesen Waffen wandelte sich langsam in Abscheu und führte dazu, dass die Erneuerung des Militärwesens erst sehr spät und im Zusammenhang mit blutigen Ereignissen erfolgen konnte. Es war der zu Anfang erwähnte Admiral Perry, der die Wiedereinführung der Feuerwaffen in Japan auslöste. Indem er die japanischen Führer davon überzeugte, dass die einzige Möglichkeit, weitere Perrys vor von unerwünschten Besuchen in der Bucht von Tokio abzuhalten nur in der Anschaffung und Beherrschung solcher Kanonen und Gewehre, wie diese sie besaßen, bestand.
(1) Arkebuse: Erste Handfeuerwaffe, die durch eine Lunte gezündet wurde, der Name kommt vermutlich von Hakenbüchse, ein Haken am Rohr übertrug den Rückstoß auf eine Auflage (Mauer oder Stütze)
(2) z.B. war die kleinste der fünf buddhistischen Universitäten größer als Oxford oder Cambridge
(3) Kaliber: Durchmesser des Laufes
(4) Feuermechanismus: ein Hebel mit eingeklemmter Lunte wurde auf das Zündloch gedrückt
(5) Diese Taktik – „Tirailleurfeuer“ – wurde in Europa erst nach der Französischen Revolution angewandt
(6) Selbst Oda Nobunaga soll diese Waffe persönlich gemieden haben
(7) Shimabara-Aufstand: 20.000 christliche Samurai und Bauern erhoben sich und wurden mit holländischer Artillerieunterstützung niedergemetzelt