Wenige Samurai nehmen in der japanischen Geschichte einen so bedeutenden Platz ein.
Am Ende des Gempai-Krieges gab es einen strahlenden Sieger: Minamoto-no-Yoshitsune. Er war der überragende Heerführer der Minamoto, der (im Auftrag seines Halbbruders, des Clanführers Minamoto-no-Yoritomo) die Familie der Taira besiegt und vernichtet hatte. In den großen Schlachten von Ichi-no-tani, Yashima und Dan-no-ura hatte er stellte sein Können unter Beweis gestellt und sicherte so dem Clan der Minamoto die Vorherrschaft über Japan und Yoritomo den Titel des Shogun. Aber vier Jahre nach dem großartigen Sieg in der Seeschlacht von Dan-no-ura musste der Held, als einsamer gejagter Flüchtling und verlassen von fast allen Getreuen, Seppuku begehen. Wie kam es zu solch einer dramatischen Wende? Um dies zu erklären, muss etwas weiter ausgeholt werden:
Yoshitsunes Vater war Minamoto-no-Yoshitomo, der im Jahre 1160 in Folge einer Rebellion gegen Tairo-no-Kiyomori zusammen mit fast seiner gesamten Familie hingerichtet wurde. Sein Überleben verdankte der damals einjährige Yoshitsune der Schönheit seiner Mutter, der Hofdame Tokiwa. Von ihr war Kiyomori derart bezaubert, dass er sie zu seiner Konkubine machte und ihr Kind am Leben ließ. Da man schon damals an die Zukunft dachte, schickte man den Jungen weit weg vom Hofe in das Kloster des Kurama-Tempels, der in der unwegsamen Bergregion im Norden von Kyoto lag. Hier wurde alles getan, um ihn mit dem friedvollen Geist zu erfüllen, der sich für einen Mönch geziemt. Der Legende nach schlich er sich aber regelmäßig davon, um bei einem geheimnisvollen Bergeinsiedler (Yamabushi) die Waffenkünste zu erlernen. Damals wurde sein abenteuerlustiger und unabhängiger Charakter geprägt. Im Alter von zehn Jahren stieß Yoshitsune durch Zufall auf eine Ahnentafel der Minamoto und entdeckte dadurch seine wahre Identität, die ihm bis dahin verheimlicht worden war. Von nun an war er vom Wunsch beseelt, gegen die Taira zu kämpfen und den Tod seines Vaters zu rächen. Etwa in dieser Zeit begegnete er zum ersten Mal dem Menschen, der später sein engster Gefolgsmann und treuester Freund werden sollte: dem Mönch Benkai. Dieser war ein riesenhafter Kriegermönch, der in den Kampfkünsten wohl bewandert war. Mit seiner enormen Körpergröße, seinen breiten Schultern und seinen Bärenkräften wirkte er neben dem eher schmächtigen Yoshitsune wie ein Berg. Dieser Mönch hatte einst geschworen, 1.000 Samurai im Kampf die Schwerter abzunehmen und sie für den Wiederaufbau seines Heimattempels, der von den Taira zerstört worden war, zu stiften. Es war ihm schon gelungen, 999 Schwerter zu erbeuten, als ihm eines Nachts an der Gojo-Brücke nördlich von Kyoto eine einsame schlanke Gestalt begegnete. Der Jüngling spielte unbekümmert auf einer Bambusflöte, und ein seidener Umhang – wie ihn Angehörige eines Tempels trugen – bedeckte seinen Kopf. Aber er führte ein Schwert mit sich, was ihn als Samurai auswies. Benkai forderte ihn auf, seine Waffe freiwillig zu übergeben, da er das zarte Bürschlein nicht als ernstzunehmenden Gegner ansah. Doch der Jüngling stellte sich zum Kampf begann und Benkai wurde schnell klar, dass er sich verrechnet hatte. Yoshitsune (der wieder einmal aus dem Kloster ausgebüxt war) hatten die heimlichen Lektionen bei dem Yamabushi unbesiegbar gemacht. Die Legende besagt, dass Yoshitsune am Ende sein Schwert wegwarf und Benkai mit seinem Fächer niederschlug. Der Kriegermönch war von diesem Beweis an Geschicklichkeit und Kampfeswillen so beeindruckt, dass er seinem Gegner auf der Stelle ewige Treue und Gefolgschaft schwor.
Etwa fünf Jahre später gelang es Yoshitsune endlich, dem Kloster und damit der Aufsicht der Taira zu entfliehen. Nach vielen Abenteuern und Gefahren, denen er nur knapp entrann und immer in Begleitung des treuen Benkai, gelangte er nach Oshu, einer abgelegenen Region im Nordosten der Hauptinsel Honshu. Dort hatte sich seit mehreren Generationen ein entfernter Zweig der Familie der Fujiwara, des einstmals mächtigsten Clans bei Hofe, als quasi unabhängige Herrscher eingerichtet. Sie konnten sich auf Grund ihrer wirtschaftlichen und militärischen Stärke relativ sicher fühlen. Hidehira, der Clanführer, bot Yoshitsune seinen Schutz an. Dieser blieb fünf Jahre bei ihm, sicher vor der Verfolgung durch die Taira. Im Jahre 1181 begann sein kometenhafter Aufstieg als Heerführer der Minamoto. Allerdings zuerst nicht im Kampf gegen die verhassten Taira. Da ihm sein Halbbruder Yoritomo, Clanführer und politisches Oberhaupt der Minamoto, schon immer misstraute (sein angriffslustiger und unabhängigkeitsbedachter Charakter waren ihm sehr verdächtig), stellte er ihn auf die Probe. Yoshitsune bekam den Auftrag, zusammen mit seinem Bruder Noriyori, seinen aufrührerischen Cousin Yoshinaka, der sich gegen Yoritomo gestellt hatte, zu bekämpfen. Dies erledigte er mit großem Erfolg, was seine Berühmtheit äußerst steigen ließ. Durch sein überschäumendes Temperament und seine kompromisslos offensive und risikobereite Haltung in militärischen Fragen machte er sich allerdings nicht nur Freunde. Besonders ein Mann namens Kajiwara-no-Kagetoki, ein General aus Yoshitsunes Armee, versuchte immer wieder, seinen Heerführer bei Yoritomo anzuschwärzen. Wie man später sah, mit Erfolg.
In den nächsten vier Jahren errang Yoshitsune Sieg auf Sieg gegen die Taira, bis er sie schließlich in der Seeschlacht von Dan-no-ura endgültig vernichtete. Nach seinem triumphalen Einzug in Kyoto wurde er von Kaiser Go-Shirakawa mit Ehrungen und Geschenken überhäuft. Dies erboste Yoritomo, der meinte, dass die Ehre des Sieges über die Taira ihm als Oberhaupt der Minamoto zustände. Zusätzlich versuchte Kajiwara, Yoshitsune beim Clanführer in Misskredit zu bringen. Er behauptete, der Heerführer hätte zusammen mit seinem Onkel Yukiie eine Verschwörung geplant, um Yoritomo zu beseitigen und selbst die Minamoto zu führen. Einige Wochen später brach Yoshitsune nach Kamakura zu Yoritomos Hauptquartier auf, um seinem Clansfürsten über den Sieg Bericht zu erstatten und ihm die gefangen genommenen hochrangigen Taira zu übergeben. Man ließ ihn aber gar nicht ans Ziel kommen. Auf einer nahegelegenen Poststation wies man ihn an, zu halten und auf weitere Befehle zu warten. Er blieb dort ungefähr eine Woche lang in einem Zustand wachsender Besorgnis. Als er schließlich erkannte, dass man ihn verleumdet hatte, sandte er wiederholt Beteuerungen seiner Aufrichtigkeit und Treue zu Yoritomo. Sie blieben alle unbeantwortet. Stattdessen erhielt er den beleidigenden Befehl, unverzüglich nach Kyoto zurückzukehren, ohne einen Fuß nach Kamakura setzen zu dürfen. Yoritomo steigerte die Demütigung noch, indem er ihm alle Güter der Taira, die sein Bruder als Lohn für seine militärischen Taten erhalten hatte, wieder entzog und ihn – das Schlimmste von allem – aus den Reihen der Minamoto-Lehnsmänner verstieß. Eine Woche später trat ein deprimierter Yoshitsune den Rückweg nach Kyoto an.
Einige Monate danach versuchte Yoritomo, den ungeliebten Halbbruder ganz aus der Welt zu schaffen. Dazu sandte er einen Kriegermönch nach Kyoto, mit dem Auftrag, Yoshitsune zu ermorden. Der Anschlag konnte aber von Benkai vereitelt werden. Dieses Attentat überzeugte sogar Yoshitsune davon, dass es keine Hoffnung auf Versöhnung mehr gab und er Verbündete gewinnen musste, wollte er überleben. In der Hoffnung, Anhänger zu rekrutieren, zog er mit seinem Onkel Yukiie und ein paar hundert Kriegern nach Westen. Doch das Glück hatte Yoshitsune verlassen. Kurz nachdem er Kyoto verlassen und sich auf der Inlandsee eingeschifft hatte, wurde seine kleine Armee von einem plötzlich losbrechenden Sturm fast völlig vernichtet. Nur durch Zufall überlebten Yoshitsune, sein Onkel Yukiie, der treue Benkai und wenige Männer das Unglück. Die ohnehin nur schwache Hoffnung auf militärische Unterstützung war nun ganz dahin. Jetzt konnte man nur noch versuchen, der Gefangennahme durch die sie von allen Seiten einkreisenden Truppen zu entkommen. Yoshitsune verabschiedete sich von seinem Onkel, der allein weiterziehen wollte. (Er wurde einige Monate später gefasst und getötet.)
Yoshitsune war jetzt ein Ausgestoßener, und Yoritomo organisierte nun die aufwendigste Menschenjagd in der japanischen Geschichte. Die Krieger aller Provinzen wurden in Alarmbereitschaft versetzt und beauftragt, jede Spur zu verfolgen, die zu einem Versteck führen könnte. Nun war Japan im 12. Jahrhundert durch seine mangelhaften Verkehrsverbindungen und langen Kommunikationswege ein riesiges Land, und die unübersichtliche, gebirgige Landschaft bot ideale Zufluchtsorte für einen findigen Flüchtling, besonders wenn er (wie Yoshitsune) viele heimliche Sympathisanten hatte. Die große Jagd setzte sich über Monate fort. Nachdem er einige Male nur knapp entkommen war, gelang es Yoshitsune, seine Spuren völlig zu verwischen und sich in Kyoto zu verstecken. Als die Lage in der Hauptstadt für ihn zu gefährlich geworden war, beschloss er, zu seinem alten Gönner Fujiwara-no-Hidehira nach Oshu zu flüchten. Um die zahllosen Sperren und Schranken auf dem Weg dahin passieren zu können, verkleideten sich Yoshitsune und seine Männer als Mönche, die Spenden für ihren Tempel sammelten. Von der über sechsmonatigen Reise ist uns heute vor allem eine Begebenheit übermittelt, die seitdem in vielen Theaterstücken verarbeitet wurde:
Eines Tages kamen die Flüchtlinge an die neu errichtete Wegsperre von Ataka am Japanischen Meer, die von Fürst Togashi, einem treuen Gefolgsmann Yoritomos, bewacht wurde. Da das Aussehen Yoshitsunes jedermann im Land bekannt war, schlug Benkai vor: „Gebt Eure Brokatstola dem Träger und setzt Euch selber den Tragkorb auf den Rücken. Wenn Ihr uns dann in kurzem Abstand folgt, so wird man Euch gewiss für einen echten Träger halten.“ Genau so geschah es, und die Gruppe gelangte an die Sperre, wo Benkai eine laute Diskussion mit Togashi begann, der sie nicht durchlassen wollte. Schließlich verlangt dieser, die Spendenliste einzusehen, welche die Mönche auf einer solchen Mission gewöhnlich mit sich führten. Obwohl Benkai eine solche Liste nicht hatte, zog er aus dem Korb des Trägers eine Schriftrolle, und begann mit donnernder Stimme, die Geschichte ihres (angeblichen) Heimattempels zu rezitieren. Die Wachen waren davon so beeindruckt, dass sie die Gruppe passieren ließen. Als jedoch der vermeintliche Träger die Sperre durchqueren wollte, erkannte ihn Togashi trotz seiner Verkleidung und befahl ihm, stehen zu bleiben. Benkai erkannte die Ausweglosigkeit der Situation und gab den Träger die Schuld an der Verzögerung. Mit Fußtritten, Stockschlägen und wüsten Beschimpfungen ob seiner Faulheit begann er, den Träger anzutreiben. Da es normalerweise kein Untergebener gewagt hätte, seinen Herren so zu behandeln, waren Fürst Togashi und seine Wächter jetzt überzeugt, sich geirrt zu haben und ließen die Mönche weiterziehen. Außer Sichtweite der Schranke bat Benkai seinen Herren, Seppuku begehen zu dürfen, um die Schmach, die er diesem angetan hatte, zu sühnen. Yoshitsune jedoch verzieh Benkai, und weinend sanken sich die Männer in die Arme.“
Ende 1187 erreichte Yoshitsune Oshu, wo er von Fürst Hidehira gastlich aufgenommen wurde und eine Villa am Koromo-Fluss zur Verfügung gestellt bekam. Doch die Ruhe währte nur kurz. Anfang 1189 verstarb Hidehira im (für die damalige Zeit märchenhaften) Alter von 92 Jahren. Kurz vor seinem Tode hatte er jedoch seinen Söhnen das Versprechen abgenommen, Yoshitsune weiterhin zu unterstützen. Doch sie hielten sich nicht an ihr gegebenes Wort und verrieten den Gast an Yoritomo. Dieser befahl daraufhin Fujiwara-no-Yasuhira, einem der Söhne, Yoshitsune anzugreifen und gefangen zu nehmen. Am 13. Juni 1189 stand Yoshitsune und seinen zehn Gefährten eine Armee von 30.000 Mann gegenüber. Die Villa lag an einer schwer zugänglichen Stelle, an der immer nur wenige Männer zugleich angreifen konnten. So konnten Benkai und seine Kämpfer die Angreifer lange genug aufhalten, um Yoshitsune Zeit für sein Seppuku zu verschaffen. Schließlich waren nach furchtbarem Kampf bis auf Benkai alle Männer gefallen. Dieser griff seine Feinde immer wieder an und metzelte sie dutzendweise nieder, bis sich niemand mehr wagte, ihn anzugreifen. Schließlich trat Stille ein. In der Mitte stand eine riesige Gestalt, deren schwarze Rüstung von den abgeschossenen Pfeilen und Lanzen aufrecht gehalten wurde. Schließlich traf ein Windstoß Benkai, der schon eine Weile tot war, und er brach endgültig zusammen. Yoritomo hatte über seinen Bruder triumphiert.
Zehn Jahre später zog sich Yoritomo eine tödliche Verletzung zu, als er vom Pferd geworfen wurde. Man erzählte sich, sein Reittier sei vom Geiste Yoshitsunes erschreckt worden, der vor dem ihm aufgetaucht war.